Antonella Bianca Meloni
2020
2020
Elsa Guillaume (*1989) ist eine Reisende. Ihre Entdeckungen rund um den Globus hält sie jederzeit in ihren Reisetagebüchern fest. Zurück in ihrem Ate lier lässt sie diese Erinnerungen dann in ihren Keramiken aufleben, um so die Betrachter*innen in Erstaunen zu versetzen. Bei der Begegnung mit ihren Werken ist es somit nicht verwunderlich, dass sich die Betrachtenden sofort verschiedensten Assoziationen ausgesetzt fühlt – hier finden wir Vertrautes, aber auch Grauen, manch eine*r mag sich an die heimische Küche erinnert fühlen, ein*e anderer sieht sich mit dem Humor der Künstlerin verbunden.
Um Guillaume und ihr Werk in der Kunstgeschichte zu verorten, sollte zunächst ein Rückblick gewagt werden, folgt sie doch einer Reihe von bildenden Künst ler*innen, aber auch Schriftsteller*innen und Händler*innen, welche seit der Antike die Welt bereisen um ein Stück „Fremde“ zurück in ihre Heimat zu brin gen. Die Geschichte des Museums als Ausstellungsort für die Öffentlichkeit beginnt jedoch erst in der Spätrenaissance und geht auf die Wunderkammern beziehungsweise Kuriositätenkabinette zurück, in welchen die mitgebrachten Raritäten unter den Begriffen der artificialia und naturalia präsentiert wurden. Die naturalia bestehen, wie ihr Name bereits besagt, aus natürlichen Gegen ständen, zum Beispiel aus Muscheln, Schildkrötenpanzern oder gar aus gestopften Tieren, wie den damals seltsam anmutenden Gürteltieren. Die artificialia hingegen waren von Menschenhand hergestellt, zu ihnen zählten unter anderem wertvolle Messinstrumente oder aufwendig weiterverarbeite te mitgebrachte Souvenirs. Bis heute finden sich in den Museen in Gold ein gefasste Straußeneier mit Trinkgefäßcharakter oder mit filigranen Schnitze reien verzierte Kokosnüsse. Die frühen Ausstellungsformen dieser Objekte hatten allerdings keinen reinen Unterhaltungscharakter. Vielmehr sind sie als enzyklopädischer Versuch einer christlichen Rhetorik zu verstehen. Mit der Dokumentation der Vielfalt der Welt wird die göttliche Schöpfung erfasst und kann so bewundert und nachvollzogen werden. Nach und nach wurden die Präsentationsformen immer komplexer und regelrecht kuratiert. Eines der bis heute erhaltenen prominentesten Beispiele findet sich im Grünen Gewölbe der Staatlichen Kunstsammlungen in Dresden. Bereits Mitte des 16. Jahrhunderts wurden in, bis ins kleinste Detail geplanten, aufeinanderfolgenden Räumen Exotika, Elfenbein, Goldschmiedearbeiten, Skulpturen und Schmuck in einem Rundlauf, welcher sich zu den kostbarsten Stücken steigerte, konzipiert.
Mit der steigenden Popularität der Wunderkammern, entwickelten sich diese von einer Sammlung zu einer touristischen Attraktion für die vielen Reisenden auf ihrem Weg nach Osten: Das Museum warerfunden. Während im Mittelalter der Handel mit den arabischen oder ost asiatischen Mächten über das komplexe Netzwerk der Seidenstraße erfolgt, ver ändert sich dieser im 17. Jahrhundert deutlich. Neue Innovationen im Segel verkehr und die vorangegangene Entde ckung des Seeweges nach Indien verle gen den Verkehr auf die Seewege. Die Ostindienkompanien, allen voran die nie derländische Vereenigde Oostindische Compagnie, erobern große Landflächen, mit Ihnen beginnt nicht nur die Globali sierung des Handesmarktes, sondern auch die Kolonialisierung der Welt und der damit folgenden Ausbeute der kolo nialisierten Länder. Für Privatpersonen aus Europa hingegen bietet sich die Möglichkeit auf gut erkundeten und viel befahrenen Routen sicher zu reisen – Tourismus, wie man ihn heute kennt. Eine Reise in ein fremdes Land bringt immer eine Grenzüberschreitung mit sich, Begegnungen mit anderen Menschen, ihren Kulturen, ihren Sprachen und auch ihrem Lebensraum. Auf den damals allerdings noch langjährigen Reisen hielt man den Kontakt nach Hause in Form von Briefen aufrecht, das wichtigste Utensil allerdings, welches viele Reisende mit sich führten war ihr Reisetagebuch. Als Resultat dessen wurden Briefe und Reisetagebücher gesammelt, um diese als Reiseberichte zu kompilieren. Die Nachfrage nach neuen Eindrücken aus fernen Ländern war groß und so wurden die Reise berichte schließlich verlegt und gedruckt. Ausgeschmückt mit aufwendigen Radierungen und ganz unterschiedlichem Wahrheitscharakter – wurden doch manche erst nach der Rückkehr, aus der Erinnerung heraus geschrie ben – wurden diese so zu „Bestsellern“ der Barockzeit. Trotz der vielen Innovationen in den letzten Jahrhunderten, die das touris tische Reisen verändert haben, ist doch der Grundgedanke der gleiche geblieben. Reist man heute via Luftverkehr mit hohen Geschwindigkeiten, deut lich mehr Komfort und vor allem in größeren Gruppen zu mehr oder weniger erschwinglichen Preisen, geschieht dies dennoch aus derselben Motivation heraus wie vor dreihundert Jahren: Das wesentliche Ziel des Reisens ist es, andere Länder zu entdecken, Grenzen zu überschreiten und dies heute mehr denn je mit den Zuhausegebliebenen zu teilen. Unzählige Bilder der sozialen Medien bezeugen heute die Präsenz der Tourist*innen in allen Teilen der Welt sowie den Drang, jeden Moment festhalten zu wollen und öf fentlich zu zeigen.
Unter den Weltenbummler*innen findet sich auch Elsa Guillaume. Eine spezielle Verbundenheit mit den Reisenden der vergangenen Zeiten zeichnet sie aus, in ihrer Eigenschaft als Künstlerin trägt auch sie ihr Reisetagebuch stets bei sich. Sie illustriert mit Liebe zum Detail, hält schriftlich Gefühle, Namen oder ver schiedene Speisen fest. Sie fängtihre Eindrücke in bunten Aquarellen ein, manche von ihnen werden zu fan tastischen Darstellungen wie UBoote aus Walfischen, manche erscheinen wie ein ComicBuch, humoristisch mit charmanten Figuren, die im Einklang mit der Natur tauchen und sich unter Fischen tummeln.
Nach ihrer Rückkehr ins Atelier in Anderlecht in Belgien verarbeitet Guillaume ihre Reiseeindrücke in vielseitigen Keramiken. Ihr Hauptwerk greift die Vielfalt der Ozeane und ihrer Bewohner auf. Die von ihr geschaffenen Arbeiten zeugen dabei von einer lebendigen Tradition der Faszination mit dem Konzept der „Fremde“ und dem Prinzip der Wunderkammer. In der heutigen Zeit des voll ständig erschlossenen Planeten mag es nicht mehr viele Landflächen oder Kulturen geben, die dem touristisch geprägten Menschen so „exotisch“ er scheinen, wie dies zur Barockzeit der Fall war. Im Gegensatz dazu bilden die Weltmeere allerdings einen enormen Teil der Erde, die den meisten Menschen unbekannt bleiben werden, oder als Tiefsee ganz und gar unerschlossen sind.
Elsa Guillaume lässt uns als Betrachter*innen eintauchen in diese eigene unbekannte und geheimnisvolle Welt. Tintenfische, fragmenthafte über dimensionierte Kiemen in leuchtendem Rot oder vollständige Fische werden von der Künstlerin in Ton geformt und anschließend in Stücke zerschnitten. Die geradezu sezierten Tiere erzielen dabei einen Effekt, welcher die Frage aufwirft, ob man sich letztlich nicht doch in einem Kuriositätenkabinett be findet. Die verwendeten Materialien ihrer Keramiken aus Erdenware oder Porzellan strahlen Kühle und Glätteaus, welche in völligem Gegensatz zu der Fleischlichkeit der darge stellten Tiere stehen. Die Werke sind mit einem fiktiven Organsystem und Muskelfleisch ausgestaltet. Die Hautflächen sind zart mit Pinseln bemalt, bläuliche Grautöne mit zarten Schattierungen belegen den zeich nerischen Ursprung der Künstlerin und lassen die Werke lebendig er scheinen. Das eingebrannte leuch tende Rot lässt schnell die Assoziation zu frischem Blut zu, was auf den ersten Blick abschreckend wirken mag, auf den zweiten Blick jedoch auch an eine Mahlzeit aus Fisch oder Meeresfrüchten denken lässt. Zwischen maka brer Grausamkeit und Realismus sind die Betrachtenden plötzlich mit dem konfrontiert, was den Menschen als biologische Art ausmacht: er gehört zu den Omnivoren, den Allesfressern.
Guillaume ist leidenschaftliche Köchin und macht sich und den Betrachten den bewusst, dass die zerschnittenen und zubereiteten Stücke auf Speisetellern einst Lebewesen waren. Mit der steigenden Nachfrage auf dem globalisierten Weltmarkt nach Fisch und Meeresfrüchten durchaus auch eines der großen Probleme unserer Zeit, dem man sich hier gegenübersieht. Bei verschiedensten Arten werden Tierschutzgesetze nicht erfolgreich um gesetzt, am allermeisten ist davon allerdings die Fischzucht betroffen. In folgedessen werden Meere überfischt, die Ökosysteme nachhaltig geschä digt und es ist bereits seit Jahrzehnten klar, dass die Meerestiere im Aussterben begriffen sind. Nichtsdestotrotz bleibt dieser in großer Hinsicht unbekannte, Lebensraum des Ozeans für viele ein abstraktes Konstrukt. Die Künstlerin selbst sieht auf ihren Reisen immer wieder die Plastikberge, die sich auftürmen, und die Schäden, die durch Menschenhand entstanden sind.
Mit ihrem Werk möchte sie auf die Unter wasserwelt aufmerksam machen und ihren Mitmenschen ins Bewusstsein ru fen, dass diese erhaltenswert ist. Her vorzuheben ist jedoch, dass Guillaume dies nicht nur mit einem erhobenen Zei gefinger tut und ihre Absichten nicht nur mahnende sind, sondern vielmehr möch te sie begeistern und die Schönheit der nach realem Vorbild geschaffenen Wesen zeigen. Sie erstaunt die Betrachter*in nen, schafft neben ihren realistischen Werken auch fantastische Wesen, die durchaus humorvoll zu verstehen sind, oder auch artificialia, wie Taucherflossen aus Fischflossen oder Taucherbrillen aus Fischaugen. Somit überführt sie das Prinzip der Wunderkammer und des gro ßen erhaltenswerten Makrokosmos auf ihre eigene Weise in einen Mikro kosmos im Ausstellungskontext. Es bleibt die Hoffnung, dass ein neuer und positiver Fokus auf die schützenswerten Ozeane unseres Planeten gelenkt wird und die Betrachter*innen dazu angeregt werden sich für eine nach haltige Lebensweise einzusetzen, sodass auch noch künftige Generationen die faszinierende Vielfalt der Welt bewundern können.