Antonella Bianca Meloni
2020
2020
ELSA GUILLAUME IM GESPRÄCH MIT ANTONELLA BIANCA MELONI
Antonella Bianca Meloni : Elsa, du hast an der École nationale supérieur des beaux-arts in Paris studiert, einer der berühmtesten Akademien Frankreichs. Dort bist du einer langen Tradition von Künstlerinnen wie Aristide Maillol, Henri Matisse oder Eugène Delacroix gefolgt. Wo verortest du dich selbst als Künstlerin, die aus einer so angesehenen Schule kommt?
Elsa Guillaume : Ich muss zugeben, dass ich Glück hatte an der École nationale supérieure des beaux-arts in Paris zu studieren. Den Studierenden dort wird viel physischer und intellektueller Raum geboten, und wir wurden mit vielen großartigen Lehrer*innen, gut ausgestatteten Studios, einer schönen Bibliothek, Workshops und einem Auslandssemester verwöhnt. Aber was für mich während meines fünfjährigen Studiums am wichtigsten war, war die zeitliche Freiheit, die wir hatten: Ich konnte meine Zeit meinen persön- lichen Projekten widmen, denen, die mir wirklich am Herzen liegen. Ich wurde dadurch angetrieben immer autonomer zu werden. Nichtsdestotrotz habe ich mir mich selbst nie als Künstlerin vorgestellt und ich fühlte mich schon immer eher zu Illustratio- nen und Graphic Novels hingezogen. Also reiste ich, wann immer ich konnte, alleine mit meinem Skizzenbuch, kritzelte, schrieb, skizzierte, was auch immer ich bemerkte, liebte und lebte: Ich dachte, mein Studium und meine Reisen wären voneinander getrennt, ohne Wechselwirkungen zwischen den beiden, aber am Ende vermischten und bereicherten sie sich natürlich gegenseitig. Während meines Studiums entdeckte ich das Material Ton für mich. Ich hatte verschiedene Druck- und Skulpturtechniken auspro- biert, aber nichts erregte wirklich meine Aufmerksamkeit, bis ich im Herbst 2010 in den Ateliers von St-Ouen Ton begegnete. Ich habe das Wort „Begegnung“ sorgfältig gewählt, um zu betonen, wie lebendig dieses Material ist. Es hat mich sowohl Geduld, als auch Methodik gelehrt. Es gibt mir ein erstaunliches Gefühl von Freiheit, als ob ich in der Lage wäre, in Volumen hinein zu „zeichnen“, sodass es sich als Kontinuität meiner grafischen Arbeit anfühlt. Ton kanalisiert meine Energie. Wenn ich eine neue Skulptur beginne, ist es der Ton, der mich während des ganzen Prozesses antreibt: Ihm zu folgen ist Evolution, aufmerksam, sorgfältig, abhängig von der Hitze, der Feuchtigkeit, der Auskragung, die ich suchen könnte. Es ist ein Material, das den ganzen Körper einbezieht, angefangen bei den Fingerspitzen, die das beste Werkzeug sind, das du haben kannst. Noch heute, zehn Jahre später, bin ich erstaunt, wie viele Informationen dank der Sensibilität der Hände übermittelt werden können.
ABM : Mit Keramik als Ergänzung zu deinen Skizzen hast du dich für eine der ältesten Kunstformen der Welt entschieden, beginnend in der Jung steinzeit bis hin zu so vielen Formen auf allen Kontinenten. Sie ist im Grunde Teil der Menschheitsgeschichte, nicht nur als Tafelgeschirr, sondern auch als eigenständige Kunstform. Wo siehst du dich in dieser Tradition der Keramiker*innen?
EG : Bisher habe ich mich nie ge- fragt, ob ich zu einer Tradition gehöre, aber ich erkenne die Universalität dieser Kunstform an. Überall auf der Welt, zu jeder Zeit, wurde Ton mit unterschiedlichen Eigenschaften und Verwendungszwecken verarbei- tet und diese Idee hat etwas sehr Bewegendes! Wenn ich Museen besuche und zeitlose schöne Keramiken sehe, frage ich mich, was sich der Hersteller oder die Herstellerin gedacht hat, welche Einflüsse er oder sie hatte und für wen das Stück geschaffen wurde – vielleicht ist es diese Verbundenheit, die ich mit einigen Keramiker*innen fühle, die unbewusst eine Art Ab- stammung schafft. Die verschiedenen
Aufenthalte, die ich in Asien, insbesondere in Jingdezhen und in China absolvierte, brachten zu der Erkenntnis, wie sich Erfindungen und Techniken dank der Reisenden entwickelten, welche die Wissenschaft vom anderen Ende der Welt nach Europa mitbrachten – oder stahlen. Die Geschichte der Seidenstraße ist erstaunlich im Hinblick auf Keramik, aber auch in Bezug auf Papier, Stoffe, Glas – die Globalisierung an ihrem Anfang! Keramik, sei es als Ge- brauchsgegenstand oder als Skulptur, zeugt von wechselseitigen Einflüssen zwischen den Kulturen, in Form ihrer Muster, Formen oder Glasuren. Aber mehr noch als eine bestimmte Technik oder Form ist für mich der reizvollste Gedanke die Geschichte, die ein Stück erzählt, wenn man den Menschen hinter dem Objekt spüren kann. Ton hat diese Kraft, die gewünschte Form anzunehmen, aber er wird immer eine Spur der Person innehaben, die ihn gemacht hat, wie eine unsichtbare Vibration der Hände, eine gewisse Art von Präsenz. Er trägt förmlich die individuelle Handschrift der Person hinter ihm in sich.
ABM : Wie Kaufleute und Reisende, welche die lange Route entlang der Seidenstraße unternommen haben, reist du sehr viel durch die Welt und hast deine Skizzenbücher immer dabei. Die künstlerischen Ergebnisse sind Keramiken, die realistische Meeresbewohner, aber auch fantastische Fabelwesen oder sogar historische Tiere zeigen. Wie funktioniert der Inspirationsprozess für dich persönlich?
EG : Die Art und Weise, wie unser Gehirn Informationen aufnimmt, und mehr als das, Inspiration entsteht, ist für mich immer noch ein sehr merkwürdiger Prozess. Wenn ich auf Reisen nach draußen gehe und mich in Bewegung setze, ist das jedes Mal ein großartiges Erlebnis: Es fordert Aufmerksamkeit, schult die Konzentra- tion. Das Notizbuch wird zu deinem Gesprächspartner. Es bewahrt eine Erinnerung von so vielen Dingen, Details, Empfindungen, die eine Kamera oder ein Tonaufnahmegerät nicht auf die gleiche Weise einfangen würde. Es ist das genaue Gegenteil unserer Gesellschaft der Sofortfotografie. Wenn ich auf Alleinreisen zeichne, oder wenn ich an wissenschaftlichen Ex- peditionen mit dem Boot teilnehme1, fühle ich mich in der Kontinuität von Büchern, die ich bewundere, geschrie- ben insbesondere von Guillaume Le Testu, Paul-Emile Pajot, Anita Conti, Adriaen Coenen, Else Bostelmann – Zeichnungen sind eine weltweit ver- ständliche Sprache, einfach und nicht aufdringlich und doch grundlegend. Das Tauchen war für mich eine überwältigende Erfahrung, in eine andere Welt einzudringen, in der alle Bezüge verschwommen sind. Keine Ablenkungen mehr, keine Geräusche und alle Bewegungen verlangsamen sich – warum auf außerirdische Kreaturen hoffen, wenn man die grenzenlose Kreativität der Natur einfach nur beobachten kann?
So habe ich im Laufe der Zeit viele Themen identifiziert, die mich stark anziehen, wie z.B. Geschichten von Expeditionen und historischen Reisen, die Neugier der Menschheit auf unwirtliche und unerforschte Orte, den Meeresgrund, Schwarze Raucher, unwirkliche Unterwassertiere, alte Navigationskarten, Gebirgssagen, wissenschaftliche Dokumentationen aller Art – so wie Naturkundemuseen versuchen, die Welt einzuordnen, je mehr man gräbt, desto mehr entdeckt man!
ABM : Es gibt einen Aspekt, über den wir bisher noch nicht gesprochen haben, nämlich den starken Bezug zwischen deinen markant geschnittenen Werken und dem eigentlichen Akt des Kochens. In gewisser Weise verhältst du dich wie eine Art Köchin, indem du Fische und Meeresfrüchte schneidest, obwohl sie aus Ton sind. Siehst du dich selbst als Köchin?
EG : Der Akt des Essens, Fischens, Schneidens, Kochens oder Teilens fasziniert mich in vielen Punkten. Es sagt viel über unsere Beziehung zu unserer Umwelt aus, zu Tieren und Pflanzen, die uns umgeben – wie wirsie betrachten und nutzen. Es ist auch eine großartige Möglichkeit um eine Kultur zu verstehen, wie und warum sich Menschen um Mahlzeiten versammeln. Es ist wieder einmal etwas, das wir mit dem Rest der Menschheit teilen. Auch der Akt des Kochens kann sowohl sehr grausam als auch fröhlich sein – vielleicht ist das der Punkt, an dem sich meine Arbeit mit der Esskultur im Mittelmeerraum und in vielen asiatischen Ländern verbindet: dunkler Humor, eine gewisse Ästhetik und der Geschmack des Festmahls! Ich sage mir oft, dass es eine deutliche Nähe zwischen dem Kochen und der Keramik herstellung gibt. In gewisser Weise sind sie beide wie Alchemie: Mit präzisen Gesten, Hackfertigkeit und der Hitze eines Ofens verwandeln sie rohes und unbearbeitetes Material in attraktive Objekte.
ABM : Der starken Nachfrage nach exotischen Meeresfrüchten und Fisch folgt die Überfischung der bedrohten Ozeane. Viele Arten sind vom Aus- sterben bedroht und Bilder von Plastik, welches die Gewässer und Strände verschmutzt, kommen einem in den Sinn. Auf deinen Reisen siehst du dich mit diesen Problemen direkt konfrontiert. Wie fühlst du dich dabei?
EG : Das Umweltproblem ist heute ein globales Anliegen, auch wenn wir noch weit davon entfernt sind es zu lösen. Da der größte Teil des Meeresraums nie- mandem gehört, gehört er gleichzeitig allen – die Meere und Ozeane werden allzu häufig als eine unerschöpfliche Quelle an Ressourcen oder als ein Wüstenort angesehen, wo alle Schadstoffe ohne Auswirkungen verschwinden können. Selbst wenn sie einem Staat „gehören“ ist es aufgrund der Entfernungen und der Unermesslichkeit der Gebiete schwierig, richtig beobachtet und geschützt zu werden. Außerdem ignorie- ren wir als terrestrische Spezies mit beschränktem Zugang zur Unterwasserwelt so viel von diesem Universum. Dies ließe sich einfach mit „Aus den Augen, aus dem Sinn“ zusammenfassen und könnte erklären, warum sich die Menschen gegenüber den Ozeanen so schlecht verhalten – ein schlechtes Mitgefühl gegenüber etwas, das 71% der Erdober- fläche ausmacht, und das wir in der Tat als ein Volumen betrachten sollten, nicht nur als eine flache Fläche. Ich versuche oft, optimistisch zu sein und denke, je mehr wir die Schönheit und Verrücktheit dieser Umwelt teilen, desto mehr werden die Menschen die zerbrechlichen Ökosysteme der Gräben, der Korallenriffe, der Mangroven, jedes riesigen Walfischs ebenso schätzen und schützen wollen, wie das winzige und unentbehrliche Plankton. Das wäre ein großartiger Anfang!